Um elf Uhr nachts klingelte das Telefon von Nharin Khamis. Ein Mann war in der Leitung, er hatte Angst. Am nächsten Tag sollte er operiert werden, sein Fuß war im Krieg verbrannt. Er sagte, die Ärzte wollten Fleisch von seinem Knie nehmen, um die Ferse zu rekonstruieren. „Vom Knie? Wie vom Knie, da gibt es kein Fleisch!“ Er war aufgebracht, wusste nicht, was mit ihm passieren sollte. Nharin Khamis rief die Pflegekräfte auf der Station an. Entwarnung. Vom Knie würde dem Mann nichts genommen werden, sondern vom Oberschenkel, wie für solche Eingriffe üblich.
Nharin Khamis ist Dolmetscherin für Flüchtlinge und Ärzte. Sie weiß, wie man Patienten erklärt, was ihnen fehlt. Sie kann das Fachdeutsch der Ärzte so übersetzen, dass die Erkrankten es verstehen, denn Khamis hat eine zusätzliche Ausbildung zur medizinischen Fachkraft gemacht. „Das haben wenige Dolmetscher“, sagt sie. Dabei wäre das dringend notwendig, denn komplexe medizinische Zusammenhänge können normale Dolmetscher häufig nicht richtig übersetzen. Im Alltag führt dieses Problem immer wieder zu Missverständnissen.
Die Kinderärztin Dr. Monika Schriever kennt das. In ihre Praxis im Sauerland kommen viele Flüchtlingsfamilien, ein Dolmetscher begleitet die Kranken selten. „Es kommen oft Flüchtlinge mit, die schon besser Deutsch sprechen, aber das ist alles nur relativ“, berichtet Schriever. Für ihre Arbeit braucht sie Informationen wie den Impfstatus oder die Krankengeschichte der Kinder, die sie im Alltag bei den Flüchtlingsfamilien oft nicht hat. „Am meisten fehlt jemand, der solche Dinge adäquat übersetzen kann“, sagt sie.
Neben den fehlenden Dolmetschern sieht Schriever aber auch ein weiteres Problem: „Man bräuchte deutlich mehr Zeit für solche Familien – die hast du aber nicht im Praxisalltag.“ Dabei kommen viele der Flüchtlingskinder mit psychischen Problemen, nässen sich ein, tun sich in der Schule schwer. Fälle, für die man Zeit braucht, und die durch sprachliche Barrieren noch komplizierter werden. Doch Schriever wird nicht für die benötigte Zeit bezahlt. Pro Patient bekommt sie im Vierteljahr eine Pauschale gezahlt: Zwischen 22 und 28 Euro, je nach Alter, egal, wie oft er ihre Praxis besucht. Ein Dolmetscher für die Behandlung würde etwa 40 Euro kosten. Pro Stunde.
“Wenn man aus einem Land kommt, in dem es im Dorf nur eine Klinik für Alles gibt, ist man mit unserem System überfordert”Dr. Mathias Wendeborn
Wenn sich Arzt und Patient nicht verstehen, kann es gefährlich werden, beispielsweise wenn die Patienten die Medikamente falsch dosieren. Auch für die Ärzte sind Missverständnisse gefährlich. „Wenn ich etwas für wichtig halte, dann mache ich das“, sagt Schriever. Trotzdem: Wenn ein Patient beispielsweise eine Impfaufklärung nicht richtig verstanden habe und es dann zu Impfschäden komme, sei sie dran. „Das ist für mich schon ein Risiko.“
Manche Ärzte behandeln wegen solcher Probleme ungern Flüchtlinge. Das stellte Dr. Mathias Wendeborn fest. Er gründete die Refudocs, eine medizinische Einrichtung für Geflüchtete in München. Die Refudocs betreiben drei Praxen in oder in der Nähe von Flüchtlingsunterkünften und bieten die medizinische Grundversorgung. In der Einrichtung beherrschen einige Mitarbeiter Fremdsprachen wie Türkisch oder Französisch. Für weniger verbreitete Sprachen ziehen sie oft Dolmetscher hinzu, die ehrenamtlich arbeiten oder von der Stadt München bezahlt werden.
„Die Kommunikation ist ein großes Thema“, sagt Wendeborn. Anfang des Jahres begann er, über hundert niedergelassene Ärzte zu befragen, wo die größten Schwierigkeiten in der Behandlung von Flüchtlingen liegen. Zu einem endgültigen Schluss sei er zwar noch nicht gekommen, er bemerke aber eine Tendenz. Anders als angenommen seien es nicht exotische Krankheiten, die die Ärzte vor Rätsel stellen, sondern die Kommunikation, die die medizinische Versorgung behindere.
Dabei spielt auch eine Rolle, wer übersetzt. Häufig helfen Verwandte, die Deutsch sprechen, den Kranken. „Fragt man aber die Oma, wann sie das letzte Mal Geschlechtsverkehr hatte, wird es schwierig, wenn der Enkel übersetzt.“ Eine richtige Behandlung bei komplexeren Erkrankungen ist laut Wendeborn nur mit einem Dolmetscher möglich.
Neben den sprachlichen Barrieren gibt es auch kulturelle Schwierigkeiten, wie das komplizierte Arztsystem in Deutschland: Mit welcher Erkrankung muss man im Krankenhaus behandelt werden, mit welcher nur ambulant? Wann zum Facharzt, wann zum Allgemeinmediziner? „Wenn man aus einem Land kommt, in dem es im Dorf nur eine Klinik für Alles gibt, ist man mit unserem System überfordert“, sagt Wendeborn. Manche Geflüchtete gehen ins Krankenhaus, obwohl sie nur Bauchschmerzen haben.
Wendeborn will es Flüchtlingen mit den Refudocs erleichtern, ins deutsche System zu finden. Die meisten Erkrankungen können seine Ärzte vor Ort mit der richtigen sprachlichen Assistenz behandeln. Bei allen anderen Erkrankungen erklärt er den Patienten, zu welchem Spezialisten sie gehen sollen. Für sein langfristiges Ziel braucht er aber mehr Unterstützung von der Stadt und der Kommune: Da die sprachlichen und kulturellen Probleme nicht nur Flüchtlinge betreffen, will Wendeborn eine zentrale Praxis einrichten – für alle, die nicht Deutsch sprechen.